Pflegeheim in Berlin-Lichtenberg: 13 Tote und 47 Infizierte bei Corona-Ausbruch
In einem Lichtenberger Pflegeheim wütet seit Oktober das Coronavirus, evakuiert wurde erst jetzt. Warum?
Das Kursana-Heim, ein ockergelber Gebäuderiegel unweit der B5 in Lichtenberg, ist für alle Besucher geschlossen, „aufgrund einer Covid-19-Infektion“, verkündet ein Aufsteller im Foyer. Angehörige stehen auf dem Zufahrtsweg und telefonieren mit ihren Müttern oder Vätern übers Handy. Die stehen am Fenster und winken.
Die Bewohner, von derzeit 90 ist die Rede, dürften ihre Zimmer nicht verlassen, erzählt eine Frau, die mit ihrer 94-jährigen Mutter spricht. Die „Schutzmaßnahmen“ seien eingeführt worden, nachdem eine Pflegerin positiv getestet wurde. Das war am 8. Oktober. Seitdem scheint die Lage im Heim außer Kontrolle geraten zu sein. Zwölf infizierte Bewohner sind nach Angaben einer Kursana-Sprecherin gestorben. Dem Vernehmen nach kam am Sonntag ein weiterer Todesfall hinzu.
Am Freitagabend wurden 14 infizierte Heimbewohner mit Hilfe der Feuerwehr evakuiert und in benachbarte Kliniken gebracht. Es handele sich nicht um schwer erkrankte Personen, wie es zunächst hieß, sondern um Bewohner aus einem stark betroffenen Gebäudetrakt, sagte die Sprecherin. Diese Teilevakuierung sei in einem „gemeinsamen Krisenstab mit dem Gesundheitsamt“ vereinbart worden.
Das Bezirksamt hatte dagegen am Freitag mitgeteilt, der Amtsarzt habe die Evakuierung angeordnet. Die Heimleitung soll sich nach Tagesspiegel-Informationen zunächst dagegen gewehrt haben. Das Bezirksamt Lichtenberg sei mit Anwälten vor Ort gewesen. Das weist Kursana zurück.
Die Zahl der Infizierten war nach Angaben des Bezirksamtes auf 47 Menschen angewachsen, darunter 27 Heimbewohner, viele davon älter als 90 Jahre. Die anderen seien Mitarbeiter oder enge Kontaktpersonen, hieß es. Kursana sprach ebenfalls von 27 Heimbewohnern und 17 Mitarbeitern. Bis zum 3. November seien alle Bewohner und Mitarbeiter getestet worden.
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Nach RBB-Recherchen lagen schon Ende Oktober die positiven Testergebnisse von 30 Bewohnern und 16 Pflegern vor. Warum es nicht schon zu diesem Zeitpunkt zu einer Teilevakuierung kam, ist unklar. Kursana wollte sich auf Nachfrage dazu nicht äußern.
Hygienemaßnahmen nach RKI-Standard umgesetzt
Das Gesundheitsamt sei bereits nach dem Auftreten der ersten Infektion am 8. Oktober informiert worden, man habe sich in enger Abstimmung über die weiteren Maßnahmen verständigt, sagte die Kursana-Sprecherin. Es seien keine neuen Bewohner aufgenommen worden. „Alle Hygienemaßnahmen nach RKI-Standard werden umgesetzt, die Mitarbeiter arbeiten alle mit FFP2-Masken und zusätzliche Flächendesinfektion wird regelmäßig durchgeführt.“ Kurse und Gruppenangebote seien gestoppt worden. Die Wohnbereiche, „in denen Covid-19-Fälle auftraten, wurden jeweils unverzüglich unter Quarantäne gestellt“.
Die Bewohner durften ihre Wohnbereiche nicht verlassen und mussten auf ihren Zimmern essen. Einige der Evakuierten sollen am Samstag wieder ins Heim zurückgekehrt sein, darunter auch die 94-Jährige, die Besuch von ihrer Tochter bekam. Sie sei schon vor einigen Wochen positiv auf das Virus getestet worden, zeigte aber keine Krankheitssymptome. Im Krankenhaus sei sie erneut getestet worden – negativ, erklärte die Tochter.
Telefonschalte von Bezirksamt und Gesundheitsverwaltung
Wegen des Infektionsgeschehens im Heim gab es am Samstagnachmittag eine Telefonschalte zwischen den Spitzen der Senatsgesundheitsverwaltung und dem Bezirksamt. Man habe „dem Bezirksamt das Vertrauen dahingehend ausgedrückt, dass der Bezirk alles tun wird, um die Situation der im Heim verbliebenen Bewohner zu verbessern“, sagte ein Sprecher von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD). Und ergänzte mit Blick auf den Betreiber des Kursana-Heims, der Dussmann-Gruppe: „Wir erwarten von Dussmann Aufklärung und nötigenfalls auch Konsequenzen.“
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Mit Blick auf die vorliegenden Fakten zum Ausbruch sprach eine Experte davon, dass Informationen zum Infektionsgeschehen in dem Heim seitens des Betreibers möglicherweise nicht weitergegeben wurden und der Fall deshalb eskalierte. Von einem „Vertuschungsmechanismus“ innerhalb des Trägers war die Rede.
Heim hielt Personalvorgaben nicht ein
Im Heim seien derzeit viele Pfleger auf Leasingbasis tätig, der Pflegeschlüssel sei nicht eingehalten worden, sagen Angehörige. Außerdem habe die Leitung öfter gewechselt, zuletzt im Oktober. Kursana bestätigt das Ausscheiden des Direktors, er sei nach Ablauf der Kündigungsfrist Ende Oktober gegangen, das habe aber nichts mit den Corona-Fällen zu tun.
[Parallel zu dem Infektionsgeschehen im Lichtenberger Pflegeheim ist ein Corona-Ausbruch im dortigen Bezirksamt bekannt geworden, weitere Informationen dazu lesen Sie hier.]
Zu den verstorbenen Bewohnern erklärte Kursana: „Nach unserer Kenntnis hatten alle schwerwiegende Vorerkrankungen oder befanden sich in der Palliativphase. Wir trauern mit den Angehörigen.“ Ein Angehöriger meldete sich bereits beim Tagesspiegel. Seine 94-jährige Tante sei im Oktober positiv getestet worden, am 26. Oktober kam sie ins Krankenhaus, zwei Tage später (nicht zwei Wochen später wie zunächst berichtet) sei sie gestorben. „Ich bin fassungslos, nicht nur über den Betreiber, sondern auch über Politik und Verwaltung“, schrieb er per Mail.
Ein Pfleger, der Samstagmittag gerade seine Schicht beendet, beschreibt die Schutzmaßnahmen im Heim als aufwendig. Es gebe FFP2-Masken, Schutzkittel und Handschuhe. Von den infizierten Bewohnern seien inzwischen viele „über den Berg“. Nach Darstellung einer in der Vorwoche in dem Heim anwesenden Notärztin waren die Bewohner selbst allerdings unzureichend mit FFP2-Schutzmasken ausgestattet. Dafür habe „ keine medizinische Indikation bestanden“, erklärte Kursana. Ab Mitte nächster Woche sollen alle Pflegekräfte vor Dienstantritt einen Schnelltest machen. Außerdem sollen „Infektions-Wohnbereiche“ geschaffen werden, um infizierte und nicht-infizierte Bewohner besser voneinander trennen zu können.
Patientenschützer Brysch kritisiert Versäumnisse der Politik
Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz, kritisierte, dass die Politik hilfsbedürftige Menschen und ihre Pfleger in den Heimen allein lasse. „Es sind auch Pflegekräfte und Mediziner, die das Virus über die Hintertür in die Einrichtungen einbringen“, sagte Brysch dem Tagesspiegel. Tägliche Schnelltests vor jedem Schichtbeginn wären hier ein probates Mittel, zwischen Infizierten und Nicht-Infizierten rasch zu unterscheiden, sagte er. Doch solche Schnelltests stünden kaum zur Verfügung, Dies sei auch darauf zurückzuführen, dass Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nur 20 Tests im Monat pro Bewohner für alle Mitarbeiter, Besucher und Pflegebedürftigen bereitstellen lasse, so Brysch.
Eine Trennung der Betroffenen zwischen infiziert, nicht infiziert und dem Status „zur Zeit noch unbekannt“ sei im Zuge des Infektionsschutzes und der Kontaktdokumentation ebenso wichtig, erläuterte er. Sollte das Virus dann dennoch im Heim sein, müssten mobile Taskforces bei der Pflege mit anpacken. „All das ist jetzt im neunten Monat der Pandemie bekannt. Es ist Bund und Ländern kaum zu verzeihen, dass davon zu wenig vor Ort verfügbar ist“, kritisierte Brysch. Es sei die Aufgabe von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Regierungschefs der Länder, daran bei ihren Beratungen am kommenden Montag schnell etwas zu ändern.
„Wer geglaubt hat, die Szenen des Frühjahrs in der Altenpflege werden sich nicht wiederholen, der irrt gewaltig“, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz weiter. Hohe Infektionszahlen führten unweigerlich zu schweren Infektionsverläufen und Todesraten bei Pflegebedürftigen. „Doch weiterhin beschäftigt sich die Politik vornehmlich mit der Situation in den Krankenhäusern“, kritisierte er. Brysch wies darauf hin, dass 6000 Menschen und damit die Hälfte der Covid-19-Toten in Heimen gelebt hätten. „Und weitere tausende Pflegebedürftige, die daheim lebten, kommen noch hinzu“, fügte er hinzu.