Probejahr am Gymnasium: 1000 Berliner Siebtklässler nicht geeignet fürs Gymnasium
Bei rund 1000 Siebtklässlern ist schon jetzt absehbar, dass sie das Gymnasium nicht schaffen werden. Und trotzdem müssen sie dort erst mal bleiben. Rektoren sprechen von einer „pädagogischen Katastrophe“.
Die Verlängerung der Probezeit an den Gymnasien wird zum Problem: Obwohl bei schätzungsweise 1000 Siebtklässlern schon jetzt feststeht, dass sie für diese Schulform ungeeignet sind, müssen sie auf den Gymnasien bleiben, weil die Sekundarschulen jetzt keine Plätze frei haben. Zum Schuljahresende sollen sie in sogenannten Rückläuferklassen zusammengefasst werden. Diese Sammelbecken gescheiterter Schüler gelten unter Schulleitern als „pädagogische Katastrophe“, während die Bildungsverwaltung von einer „sehr wohl geeigneten und notwendigen Organisationsform“ spricht, „die nicht verteufelt werden sollte“.
„Wir haben in den vorhandenen Sekundarschulklassen nicht genug Platz“, begründet etwa Charlottenburg-Wilmersdorf seinen Plan, drei Rückläuferklassen für rund 75 Schüler aus Gymnasien aufzumachen. Da es aber nur an zwei Sekundarschulen noch räumliche Kapazitäten gibt, wird sogar erwogen, eine Rückläuferklasse an einem Gymnasium unterzubringen. Reinickendorf erwartet über 80 Kinder, die das Gymnasium nicht schaffen, während beispielsweise in Pankow, Steglitz-Zehlendorf und Friedrichshain- Kreuzberg nur mit je etwa 50 Schülern gerechnet wird.
Dramatischer ist die Lage in Neukölln. Bildungsstadträtin Franziska Giffey (SPD) geht nach ersten Abfragen von über 100 Gymnasiasten aus, die im Sommer in Rückläuferklassen untergebracht werden müssen. Familien, die dies umgehen und schon jetzt an eine Sekundarschule wechseln wollen, werden enttäuscht: Freie Plätze gibt es nur noch an gefürchteten Brennpunktschulen. Allein am Leonardo-da-Vinci-Gymnasium werden rund 60 der 240 Siebtklässler absehbar das Schuljahr nicht schaffen. Die Situation sei „desaströs“ für alle Beteiligten, urteilt die stellvertretende Schulleiterin Doris Mischon-Vosselmann: Die leistungswilligen Kinder, die in zwölf Jahren zum Abitur geführt werden sollen, würden von den anderen Kindern, die sich jetzt chancenlos fühlen, gestört.
Ähnliches berichtet die Leiterin des Diesterweg-Gymnasiums ins Mitte, Brigitte Burchardt. Es sei „fast tragisch“, dass viele Eltern auf dem Gymnasium bestünden, obwohl ihre Kinder mit schlechten Zeugnissen von der Grundschule kämen. Sie spricht von rund 30 Kindern, die absehbar scheitern werden. Noch mehr sind es am Menzel-Gymnasium in Tiergarten. Hier könnte sogar jeder zweite Siebtklässler betroffen sein, was rund 80 Schülern entspricht. Direktorin Cynthia Segner versucht jetzt, mit Schulsozialarbeitern und zusätzlichen Lehrerstunden die schwierige Situation einzufangen.
Dass die Schulen so viele ungeeignete Kinder aufnehmen müssen, ist dem Schulgesetz geschuldet: Solange ein Gymnasium freie Plätze hat, darf es keine Kinder abweisen. Zudem kommen auch über das Losverfahren viele ungeeignete Kinder in die Gymnasien. Die Schulleiter können nur versuchen, die Eltern über Beratungsgespräche davon zu überzeugen, es lieber an einer Sekundarschule zu versuchen. Viele Eltern seien aber „beratungsresistent“, berichten die Direktoren. Sie machten nicht einmal von der Möglichkeit Gebrauch, über das Bildungspaket Nachhilfestunden zu finanzieren.
Der ehemalige Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) hatte das Losverfahren eingeführt und auch die Verlängerung der Probezeit von einem halben auf ein volles Jahr, um möglichst vielen Kindern den Weg zum Gymnasium zu ebnen. Allerdings fiel die Premiere seiner Reform ausgerechnet mit dem übergroßen Jahrgang zusammen, der bereits mit fünf Jahren eingeschult wurde. Der daraus resultierende Platzmangel an den Gymnasien und den Sekundarschulen erschwert die Reform zusätzlich, zumal auch noch Schulen fusionieren mussten. Zudem haben die Gymnasien kein Interesse daran, im Probejahr ein Auge zuzudrücken: Wenn sie schwache Schüler jetzt nicht herausfiltern, müssen sie sie bis zum Ende der zehnten Klasse behalten.